Der Straßenname passt an diesem sonnigen Sonntagvormittag genau zur Stimmung: Eine tiefe Ruhe liegt über der Leonhardsruhstraße und ihrer Nachbarschaft. An Arbeitstagen mag das ganz anders sein, doch auch dann gibt es hier eine Oase der Stille. Sie verbirgt sich hinter einer unscheinbaren Mauer mit einem schmiedeeisernen Tor, das heute einladend geöffnet ist. „Friedhof der ehemaligen israelitischen Kultusgemeinde“ steht auf der Tafel daneben. Stadtführerin Elke Hartung ist bereits vor Ort und hat alles für die Führung vorbereitet. Jetzt wartet sie ab, wer kommt. Eine Voranmeldung gibt es nicht. „Ich mache die Führung ab einer Person“, erklärt sie.
Seit 2006 bietet Elke Hartung bereits Führungen in Gunzenhausen an. Sie hat die Prüfung zur „Limes-Cicerona“ gemacht und bringt Gästen die römische Geschichte der Gegend näher. Auch die Hexenverfolgung oder die Zeit der Markgrafen gehören zu ihrem Führungsrepertoire. „Wenn man sich mit Gunzenhausen beschäftigt, ist die jüdische Geschichte nicht auszuschließen“, betont sie. Den ehemaligen israelitischen Friedhof kannte sie bereits, doch das Tor war stets verschlossen. 2012 fragte Elke Hartung bei der israelitischen Kultusgemeinde nach, ob es möglich wäre, dort Führungen anzubieten. Die Idee wurde positiv aufgenommen. „Dann habe ich mich ins Archiv begeben und die Geschichte aufgearbeitet“, erzählt die Stadtführerin. Wichtige Impulse, so berichtet sie, lieferten auch ihre Freundschaft zu einer jüdischen Familie aus Markt Berolzheim und ihre Reisen nach Israel.
Ein Sinnbild der Vergänglichkeit
Wer an der Führung teilnimmt, lernt auch einiges über jüdische Bestattungsriten. Los geht es vor dem Taharahaus, in dem früher die Toten gewaschen wurden. Der große Torbogen ist zugemauert, aber noch deutlich sichtbar. „Ein jüdischer Friedhof wird nie aufgelassen und nie verändert“, erklärt Elke Hartung. „Wenn ein Grabstein umfällt, fällt er um. Das ist so gewollt. Jüdische Friedhöfe zeigen die Zeit. Sie können vermitteln, wie vergänglich wir sind.“
Auch die Grabsteine auf dem Friedhof in Gunzenhausen sind teils krumm, verwittert und mit Moos bewachsen. Allerdings stehen sie nicht mehr dort, wo sie einst aufgestellt wurden. In der Zeit des Nationalsozialismus wurden sie weggeschafft und teils zerstört. Nur ein Bruchteil war nach dem Krieg noch auffindbar. Es gab jedoch keine Möglichkeit herauszufinden, wo ihr ursprünglicher Platz war. Verstreut stehen sie heute zwischen Gänseblümchen und Blausternchen im Gras.
Die Stadtführerin gibt einen kurzen Überblick über die Geschichte der Juden in Gunzenhausen. Immer wieder wurden sie Opfer von Verfolgung und Vertreibung. Ein erster jüdischer Friedhof aus dem Mittelalter wurde aufgegeben. Doch es gab auch andere Zeiten, in denen innerhalb der Stadtmauern ein jüdisches Viertel mit einer schönen Synagoge existierte. „Es war kein Ghetto“, betont Elke Hartung. Bankiers, Händler und Gastwirte lebten dort, Vereine wurden gegründet. 1875 wurde der Friedhof in der Leonhardsruhstraße angelegt.
Gunzenhausens „blutiger Palmsonntag“
Dessen Grabsteine erzählen heute als „Bücher aus Stein“ von den Menschen, die einst das Leben in der Stadt mit gestalteten. Auf einer kurzen Tour von Grabstein zu Grabstein lässt Elke Hartung einige der Familiengeschichten für ihre Zuhörer lebendig werden. Zu jedem Stein hat sie eine Tafel parat, die Bilder der Familie, ihres Hauses oder verschiedener Dokumente zeigt – von der Rechnung für einen Klosettdeckel bis zum Schulzeugnis. Die Steine selbst sind teils auf Deutsch und teils auf Hebräisch beschriftet. Elke Hartung liest eine Übersetzung vor, eine Hommage an den Verstorbenen, der als „ehrlicher und treuer Mensch“ beschrieben wird.
Sie erzählt auch von den Nachfahren derjenigen, die auf dem Friedhof ruhen. Über viele heißt es in den Archiven, sie seien „weggezogen“. Als Zielort folgt dann der Name eines Konzentrationslagers. Die Gästeführerin berichtet vom „Blutigen Palmsonntag“ 1934, als ein von SA-Mann Kurt Bär aufgestachelter Mob durch Gunzenhausen zog und mutmaßlich Jakob Rosenfelder sowie Max Rosenau ermordete – auch wenn beide Todesfälle damals als Selbstmord eingestuft wurde. Eindrücklich schildert sie die Plünderung des Bankhauses Gerst: „Ich konnte noch eine Zeitzeugin interviewen. Sie hat ihr ganzes Leben lang die gellenden Schreie der Frau Gerst im Ohr gehabt.“
Die Geschichte geht weiter
Eine Station ist eine Gedenktafel für die Familie Dottenheimer, die einen gut gehenden Wein- und Käsehandel betrieb. Von der letzten Generation, die in der Stadt zu Hause war, überlebte nur einer den Krieg: Ferdi Dottenheimer wanderte in die USA aus. Seine Tochter hat den jüdischen Friedhof in Gunzenhausen bereits besucht. Sie ist eine von zahlreichen Nachkommen, die seit den 1960er Jahren in die Stadt kamen. Elke Hartung hat schon einige von ihnen begleitet und dabei bewegende Momente erlebt. „Viele mussten ihren Angehörigen versprechen, Deutschland nie zu besuchen“, weiß sie. Dennoch hätten sie sich für die Reise entschieden. Eine Gruppe, so erinnert sie sich, habe sich auf dem Friedhof an den Händen gefasst und gemeinsam das Kaddisch-Gebet gesprochen. „Ich kriege heute noch eine Gänsehaut, wenn ich daran denke“, verrät die Stadtführerin.
Elke Hartungs Erfahrung nach sind die Angehörigen dankbar, dass in Gunzenhausen über die Geschichte ihrer Familien gesprochen wird, dass Bürger und Stadt versuchen, sie zu dokumentieren und die Erinnerung am Leben zu halten. Oft führt sie Schulklassen oder Kirchengruppen über den Friedhof und erlebt dabei, dass Menschen mit unterschiedlicher Religion offen für die Geschichte sind. „Dieser Friedhof ist kein toter Ort – er lebt“, ist sie sich sicher. „Das ist es auch, was mich an der jüdischen Geschichte begeistert: Es gibt immer einen Bezug zur Gegenwart.“